Das große Verschweigen beenden – 80 Jahre Überfall auf die Sowjetunion

Jan Korte

Vor 80 Jahren, am 22. Juni 1941, begann Nazi-Deutschland mit dem »Unternehmen Barbarossa« den Überfall auf die Sowjetunion. Vom ersten Tag an terrorisierten die faschistischen Aggressoren in diesem Raub- und Vernichtungskrieg die Zivilbevölkerung auf das Schrecklichste. Mit Schreiben vom 11. März 2021 wandte ich mich deshalb an den Präsidenten des Bundestages mit dem Vorschlag, aus Anlass des 80. Jahrestages eine Gedenkveranstaltung im Bundestag durchzuführen.Am 23. März 2021 antwortete der Präsident darauf abschlägig mit Verweis auf die Veranstaltungen zum 75. Jahrestages des Beginns und dem 70. Jahrestag des Endes des zweiten Weltkrieges. Ferner übermittelte er in seinem Schreiben:

„Nach meiner Überzeugung sollten wir an der bisherigen parlamentarischen Übung einer ungeteilten Erinnerung an den gesamten Verlauf des Zweiten Weltkrieges und des von ihm ausgegangenen Leids festhalten. Hierfür eignen sich in besonderer Weise die Jahrestage des Kriegsbeginns und des Kriegsendes.“

In diesem Satz steckt viel drin, wenn man verstehen will, warum die Opfer des Vernichtungskrieges in Osteuropa im Allgemeinen und die Opfer der UdSSR im Speziellen kaum eine Rolle in den vergangenen Jahrzehnten spielten. Die Antwort des Bundestagspräsidenten verkennt den besonderen Charakter des Krieges gegen die Sowjetunion. Dieser wurde als ein entgrenzter Angriffs- und Vernichtungskrieg geplant und durchgeführt. Weite Teile des Territoriums sollten kolonisiert werden, die dort lebenden Menschen dezimiert, Jüdinnen und Juden ermordet und Kommunistinnen und Kommunisten liquidiert werden. Dieser Krieg war gerade dadurch gekennzeichnet, dass er alle bis dahin geltenden Rechts- und vor allem Zivilisationsregeln vollständig aufhob. Von den Nazis wurde er auch als „Weltanschauungskrieg“ verstanden. Das heißt, neben den für die Weltmachtpläne Nazi-Deutschlands wichtigen ökonomischen Ressourcen, die in der imperialistischen Tradition deutscher Eliten seit dem frühen 20. Jahrhundert standen, ging es auch um ideologische Prinzipien wie Antikommunismus, Rassismus und Antisemitismus. Jan Philipp Reemtsma thematisierte die völlige Entgrenzung im NS-Vernichtungskrieg treffend bei der Eröffnung der sogenannten Wehrmachtsausstellung 1995:

„Der Krieg der deutschen Wehrmacht im – pauschal gesprochen – ‚Osten‘ ist kein Krieg einer Armee gegen eine andere Armee gewesen, sondern er sollte der Krieg gegen eine Bevölkerung sein, von der ein Teil – die Juden – ausgerottet, der andere dezimiert und versklavt werden sollte. Kriegsverbrechen waren in diesem Krieg nicht Grenzüberschreitungen, die erklärungsbedürftig sind, sondern das Gesicht des Krieges selbst. Der Terminus ‚Kriegsverbrechen‘ ist aus einer Ordnung entliehen, die von Deutschland außer Kraft gesetzt worden war, als dieser Krieg begann.

Schon vor Beginn des Angriffs auf die Sowjetunion wurde in Befehlen und Weisungen klargemacht, dass jedwede Brutalität erlaubt und notwendig sei. Dabei gingen der in der Wehrmacht verbreitete übersteigerte Nationalismus, Antislawismus, Antisemitismus und besonders der Antikommunismus eine Verbindung ein, die alle Empathie und humane Selbstbeschränkung gegenüber dem Feind aufhob. Mit Unterstützung der Wehrmacht wüteten hinter der Front die Einsatzgruppen, die rund 2,5 Millionen Frauen, Kinder und Männer ermordeten. Damit bildete der Krieg gegen die Sowjetunion auch den Eintritt in die systematische, verwaltungsbürokratisch flankierte und arbeitsteilig organisierte Ermordung der Jüdinnen und Juden.Die Sowjetunion musste bis zur Befreiung den höchsten Blutzoll in diesem Krieg bezahlen. Etwa 27 Millionen Bürger der Sowjetunion – mehr Zivilisten als Soldaten – verloren durch den Ostfeldzug der Wehrmacht ihr Leben. Tausende Städte und Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht. Fast jede Familie hatte Verluste zu beklagen. Mehr als alle anderen Länder, die am Zweiten Weltkrieg beteiligt waren, musste die Sowjetunion die Last dieses Krieges tragen. Angesichts dieser Horrorzahlen stellt sich die Frage, warum diese Opfer kaum im öffentlichen Bewusstsein vorhanden sind?
Das Gedenken an die Opfer des Vernichtungskrieges in Osteuropa wurde in der BRD in erster Linie von Geschichtsinitiativen und Einzelpersonen wachgehalten und zwar zu einer Zeit, als das keineswegs opportun war. Schuldabwehr und Verleugnung waren bis in die späten 1960er Jahre dominant und konnten danach nur nach harten Auseinandersetzungen teilweise gebrochen werden. Das entscheidende Schmiermittel gegen die Auseinandersetzung mit dem NS-Faschismus war aber der Antikommunismus, der in der frühen Bundesrepublik quasi staatsreligiöse Züge annahm. Dabei ging es weniger um die Abwehr von linken Ideen und linker Politik. Vielmehr bot der Antikommunismus die Möglichkeit sich gegen den alten und neuen Hauptfeind Kommunismus erneut zu formieren und damit eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und emotionalen Verstrickung in den Faschismus zu umgehen. Diese Politik wurde maßgeblich von Adenauer exekutiert, der selber kein Nazi war, aber den "Bolschewismus" als "Todfeind des Christentums" betrachtete. Außerdem erkannte er, dass die Beendigung der Verfolgung von NS-Verbrechern und das Beschweigen der jüngsten Vergangenheit schlicht Wahlerfolge brachte.In diesem reaktionären Klima galt der damalige Krieg gegen die UdSSR als geradezu legitim. Tausende von sogenannten Landserheften und anderem braunen Dreck wurden ohne Ende verkauft. Die Legende von der sauberen Wehrmacht, die mit all den Verbrechen nichts zu tun gehabt haben sollte, tat ihr Übriges. Der tief internalisierte Antikommunismus Westdeutschlands konnte angesichts des Kalten Krieges wieder voll ausgelebt werden. Während aktuell die kleine und über Jahrzehnte kaum beachtete Gedenkstätte im ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenenlager Schloss Holte-Stukenbrock mit vielen Millionen Euro zu einer internationalen Gedenkstätte ausgebaut werden soll, stand die seit den 1960er Jahren existierende Gedenkinitiative „Blumen für Stukenbrock“ über Jahre im Verdacht, eine fünfte Kolonne Moskaus und natürlich kommunistisch infiltriert zu sein. Menschen wie Peter Jahn, der ehemalige Direktor des Deutsch-Russischen Museums in Karlshorst, haben sich beharrlich darum bemüht, an das historische Geschehen zu erinnern und stärker in der Öffentlichkeit zu verankern.Und auch die Bundestagfraktion der LINKEN und vor ihr die PDS haben sich immer wieder für die Verankerung des Gedenkens und konkrete Entschädigung für die „vergessenen“ Opfer eingesetzt. Der Linksfraktion ist es etwa zu verdanken, dass am 20. Mai 2015 den wenigen noch lebenden sowjetischen Kriegsgefangenen eine finanzielle Anerkennungsleistung von 2500 Euro zuteil wurde, soweit man sie ausfindig machen konnte. Das Ganze fand allerdings möglichst leise und lautlos statt, ohne eine politische Geste und öffentlicher Thematisierung. Gerade das war und ist unfassbar. Von den etwa 5,7 Millionen Rotarmisten, die in die Hände der Wehrmacht fielen, kamen über 3 Millionen durch Hunger, Zwangsarbeit, Kälte und Mord ums Leben. Und die Kriegsgefangenenlager standen unter Hoheit der angeblich sauberen Wehrmacht. Oftmals waren diese Lager in Deutschland, für alle sichtbar.

Dass sich die Bundesregierung um die historische Verantwortung Deutschlands für den Überfall der faschistischen Wehrmacht auf die Sowjetunion herumdrückt, hat aber auch ganz konkrete aktuelle Gründe: Die Erinnerung an den verbrecherischen Krieg passt einfach nicht in die Pläne, die NATO weiter aufzurüsten und das Verhältnis zu Russland feindseliger zu gestalten. Sie passt nicht ins Bild, wenn sich Deutschland mit 200 Soldaten der Bundeswehr und zehn Eurofightern am Polarkreis sowie mit insgesamt 4000 Soldaten in der Ostsee an den NATO-Manövern gegen Russland beteiligt. Die Kriegstreiber und Aufrüstungs-Befürworter wollen nicht daran erinnert werden, dass Frieden und Verständigung mit Russland die einzig richtige Schlussfolgerung aus der Katastrophe des 2. Weltkrieges wären. Gute Beziehungen und Freundschaft mit Russland, wie mit allen anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, müssten lange schon erklärtes Ziel deutscher Politik sein. Dass sie es nicht sind, ist auch eine Langzeitfolge der antibolschewistischen NS-Propaganda. Aber allen Menschen sollte bewusst sein: Die Alternative zum Frieden mit Russland bedeutet Rüstungseskalation und Kriegsgefahr.Dagegen müssen wir unsere Stimme erheben.