Würde den Opfern - Mahnung den Lebenden

Gedenken zum 75. Jahrestag der Reichspogromnacht auf jüdischem Friedhof

Nachdem vor 75 Jahren Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Abstammung in Deutschland die Würde genommen und sie für „vogelfrei“ erklärt wurden, wollen wir ihnen diese Würde zurückgeben und die Lebenden zur Mahnung aufrufen.“ eröffnete Tobias Pochanke am Freitag, dem 8. November als Ortsvorsitzender der LINKEN. Saale-Wipper die Gedenkveranstaltung auf dem jüdischen Friedhof in Güsten. Der LINKE Ortsverband ruft seit Jahren zu diesem Gedenken an die Novemberpogrome von 1938 auf.

Als Hauptredner erhielt in diesem Jahr der Vorsitzenden des Verbandsgemeinderates Saale-Wipper Dr. Harald Lütkemeier das Wort. Dieser ging in seinen Ausführungen vom Januar 1933 aus, als Hitler Reichskanzler wurde. „Es begannen die Repressionen gegen die jüdische Bevölkerung, der 9. November 1938 war nicht nur ein schrecklicher Höhepunkt von Diffamierungen und Ausgrenzungen. Es war darüber hinaus ein Umbruch in der Verfolgung von bis dahin nicht gekannter Brutalität.“ In der Kristallnacht vom 9. zum 10. November wurden 270 Synagogen und 7500 Geschäfte zerstört und mehr als 400 Menschen erschlagen. 30 000 jüdische Männer wurden festgenommen und in Konzentrationslager gebracht. Der aus Güsten stammende jüdische Arzt Dr. Arno Phillipsthal war eines der ersten Opfer des SA-Terrors in Berlin. Sein Vater betrieb ein Textilgeschäft in Güsten. Dr. Phillipsthal war ein sehr beliebter Arzt und berechnete sein Honorar nach dem Einkommen seiner Patienten, oft behandelte er ganz Arme auch kostenlos. Sein Verbrechen: Er war Jude und stand dem neuen System kritisch gegenüber, deshalb wurde er gewaltsam zu Tode geprügelt. Aus kleinen Dateien in der Opfer-Datenbank von Yad-Vashem geht hervor, dass die in Güsten lebenden Hedwig Abraham, Gertrud Goldstein, Henriette Goldstein, Ruth Leske, Aron Liebmann, Melanie Lippmann, Carl Maerker, Moritz Simon, Herbert Phillipsthal nach Auschwitz, Theresienstadt, Lodz und Riga in die Vernichtungslager deportiert wurden. In diesen Lagern überlebten nur wenige. „Warum ist dies alles geschehen, gab es keinen Widerstand?“ fragte Dr. Lütkemeier.  Es war nur eine kleine Minderheit die sich dem Druck und der Propaganda entzog. Nach dem Pogrom wurden sie als Volksverräter in Schnellverfahren verurteilt. Wie kam es zu dieser Diktatur, wie konnte es zur völligen Absage an Mitmenschlichkeit und Toleranz kommen? Warum hatten die demokratischen Kräfte versagt?  Auf einige dieser Fragen kann die Geschichtsforschung heute Antworten geben.

 Aber was haben wir daraus gelernt?

Die Zahl der rechtsextrem motivierten Straftaten ist in den letzten Jahren gestiegen. Auch die Brutalität der Täter steigert sich deutlich. Vor wenigen Wochen haben 9 junge Männer den Besitzer eines türkischen Imbisses in Bernburg überfallen. Viele Bürger/innen haben eine Woche später an der Solidaritätskundgebung teilgenommen. Ihnen ist es ein Bedürfnis ein Zeichen zu setzen für Toleranz  und Demokratie. Ebenso haben die Teilnehmer/innen des Fußballturniers „Kick gegen Rechts“ für den Imbissbesitzer gespendet.

 Was können wir tun?

Es gibt nur eine Chance: Wir müssen uns mit dem Alltagsrassismus auseinandersetzen. Fremdes muss im Alltag erlebbar werden, Asylbewerber/inne sollten wir annehmen und integrieren. Schüler/innen der Gymnasien in Bernburg und Staßfurt erinnern mit Stolpersteinen an die vertriebenen Juden. Anfang dieses Jahres wurden dem Landrat 2882 Unterschriften übergeben, damit die armenische Familie Kalashyan hier bleiben darf. Hier werden Bürgerengagement und Zivilcourage in der Bevölkerung sichtbar. „Lassen Sie uns wachsam sein. Lassen Sie uns immer einen kritischen Blick auch auf die kleinen Anzeichen von Fremdenfeindlichkeit werfen. Neugier aufeinander, Toleranz, Konfliktfähigkeit, demokratisches Bewusstsein - das sind Möglichkeiten, dem Alltagsrassismus zu begegnen. Allein dass Sie hier sind, macht Mut! Wehret den Anfängen!“ schloss der Redner.

Nach einer Gedenkminute beendete Tobias Pochanke die Gedenkveranstaltung, so dass der Friedhof nach jüdischem Gesetz pünktlich um 16:15 Uhr zum Beginn des Schabbat wieder geschlossen werden konnte. Der Vorsitzende des Landesverbandes jüdischer Gemeinden, Max Privorozki, wies auf diese Auflage hin und begrüßte grundsätzlich das Gedenken in Güsten.

 

Ernst H. Brink