Gedenken an die Reichspogromnacht in Güsten

Anlässlich des 74. Jahrestages der Reichspogromnacht rief der Ortsverband der LINKEN Saale-Wipper am 9. November wieder zum Gedenken auf dem Jüdischen Friedhof in Güsten auf. In seiner Ansprache mahnte der evangelische Pfarrer Arne Tesdorff, wachsam zu sein. Er sprach über drei Gedanken, die ihm an einem solchen Tag durch den Kopf gehen:

Zum ersten „ …die unglaubliche Schnelligkeit, mit der das Monster seine Opfer verschlang. Die Nazis haben 1933 die Macht ergriffen. Das heißt, dass nur fünf Jahre danach dieses Pogrom stattfand. Fünf Jahre sind eine historisch sehr kurze Zeit! Wie konnte es in so kurzer Zeit dazu kommen?“ Nach Tesdorffs Ansicht gab es schon vorher einen latenten Antisemitismus, eine kleinbürgerliche Fremdenfeindlichkeit und eine sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts ausbreitenden Rassentheorie, die später zur Ideologie wurde. „Mal hier am Stammtisch ein kleiner Witz über die Juden, mal da eine Schmiererei an der Synagoge und bereits 1923 in Berlin das Scheunentor-Pogrom, bei dem sich die Polizei auffällig zurückhielt.“ In seiner weiteren Ausführung machte er auf den Umstand aufmerksam, dass fast auf den Tag genau vor einem Jahr offenbar wurde, dass es in Mitteldeutschland eine Neonazi-Terror-Zelle gab. „Hier mal ein Türkenwitz oder eine Hakenkreuzschmiererei und die Meinung an den Stammtischen, dass uns die „Neger“ die Arbeit wegnehmen. Ich will weder den Behörden eine Nähe zur Nazi-Ideologie unterstellen, noch den Teufel an die Wand malen: aber gewisse Parallelen drängen sich geradezu auf zwischen heute und der Weimarer Zeit...“ führte Pfarrer Tesdorff weiter aus. 

In seinem zweiten Gedankengang ging es um die Frage nach den Tätern, den Nazis. „Aber die kamen ja nicht vom Mars. Die sind gewählt worden! Die NSDAP war bei beiden Reichstagswahlen 1932 stärkste Kraft. Die sind gewählt worden von meinem Großvater, der selber NSDAP-Mitglied war, und sind gewählt worden von Ihren Eltern und Großeltern - nicht von allen, aber von zu vielen! Die ganzen Ausschreitungen, die ganzen zerbrochenen Scheiben, die verprügelten Menschen: das war doch nicht das Werk von einer kleinen, durchgedrehten Minderheit. Darunter waren treusorgende Familienväter, Postbeamte, Arbeitslose und der Nachbar. Und dann noch ein Großteil derer, die hinter den Vorhängen zugeschaut haben oder wegsahen. So wie in Rostock im Sommer 1992, vor 20 Jahren. Auch ein trauriges Jubiläum. Und mir stellt sich die Frage: Wie hätte ich mich verhalten in solch einer Situation? 1938, 1992? Wäre ich damals eingeschritten? Hätte ich Juden bei mir versteckt, auf die Gefahr hin, selbst ins KZ zu kommen? Ich weiß es nicht."                                                                                                                                  

Als drittes stellte der Pfarrer die tiefgreifende Frage nach dem Widerstand und führte dazu folgendes aus: Nicht jeder ist zum Widerstandskämpfer geboren. Nicht jeder ist ein Held.   Aber die Geschichte lehrt mich: auf die Dauer wegzusehen kann in die Katastrophe führen. Es reicht nicht, auf die unfähigen Behörden zu schimpfen - auf die habe ich nur wenig oder keinen Einfluss. Es reicht nicht, auf irgendwelche Sonntagsreden von Politikern zu hoffen, wenn es wieder mal um Integration oder Rassismus geht. Wenn es um Rassismus und Fremdenfeindlichkeit geht, ist mein Handeln gefragt - ist unser Handeln gefragt - das sind wir den Opfern schuldig, derer wir heute gedenken. Und das müssen eben nicht die großen Heldentaten sein, sondern das Kleine, das in meiner Macht steht und das ich mir zutraue. Zum Beispiel nicht den Mund zu halten, wenn jemand rassistische Bemerkungen macht. Die Erinnerung wachzuhalten an die dunkelste Zeit unserer deutschen Geschichte - gemeinsam mit Ihnen und Anderen. Und wachsam zu sein - dass sich so etwas niemals wiederholen kann und darf. 

Zum Abschluss seiner Rede las der Pfarrer noch nach jüdischem Brauch das Kaddisch - das jüdische Totengedenken. 

Der Ortsvorstand der LINKEN in Saale-Wipper dankte Arne Tesdorff für seine mahnenden Worte.

Ernst Hermann Brink, Vorsitzender der Basisorganisation Saale-Wipper