Vortrag „Fachkräftemangel“ beim LINKEN Stammtisch

Ich will als Einstieg den Präsidenten der IHK Magdeburg zitieren. Er hat zum Neujahrsempfang am 11.01.18 unter anderem Folgendes gesagt: „Wir sind nicht mehr an einem Punkt, wo hier und dort ein Mitarbeiter fehlt oder eine freie Stelle nicht mehr so schnell besetzt werden kann. Wir sprechen mittlerweile über Produktionseinschränkungen, abgelehnte Aufträge und Betriebsaufgaben. In Sachsen-Anhalt werden bis 2020 rund 80.000 Fachkräfte, vom Mechatroniker bis zum Bäcker, gebraucht. Das ist übernächstes Jahr.“

Nach Ansicht von Wirtschaftsexperten geht derzeit die Arbeitslosigkeit aus zwei Gründen zurück:

1. Durch den wirtschaftlichen Aufschwung und 2. durch die demografische Entwicklung.

Diese hat weitaus stärkere Wirkung auf den Arbeitsmarkt, sodass es Sinn macht, sich die Bevölkerungsentwicklung in Sachsen-Anhalt genauer anzusehen:

Das statistische Landesamt stellt fest, dass von 1991 bis 2014 die Einwohnerzahl im Land um 21% oder in absoluten Zahlen, um 587.776 Menschen zurückgegangen ist. Bertelsmann und das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung prognostizieren, dass im Zeitraum von 2012 – 2030 Sachsen-Anhalt das Bundesland mit den stärksten Einwohnerverlusten von nochmal -13,6 % (Bertelsmann) bzw. -16,8%  sein wird. Logisch: In den 90er Jahren sind hauptsächlich junge Frauen weggezogen, die jetzt nicht in Sachsen-Anhalt Kinder kriegen. Und Kinder, die nicht geboren werden, kriegen auch keine Kinder.

Der Altersdurchschnitt steigt z.B. im SLK von 50,2  Jahre in 2012 auf 55,7 Jahre in 2030. Dabei spielt immer noch eine überproportionale Abwanderung von jungen Erwachsenen eine Rolle.

Das Leibnitzinstitut für Länderkunde hat 2015 eine Befragung unter Jugendlichen durchgeführt. Viele von den Befragten gaben an, aus drei Gründen nicht im Land bleiben zu wollen:

1. Wegen des Arbeitsmarktes (der Branchenstruktur, der Karrierechancen und des Lohnniveaus).

2. Wegen Mängeln in der Infrastruktur (unzureichendem ÖPNV, fehlenden Freizeitangeboten und wegen des fehlenden Zuganges zu schnellem Internet).

3. Wegen des fehlenden Zusammenhalts am Heimatort und der Alterung in den Heimatgemeinden.

Eigentlich alles nachvollziehbar: ich will doch dahin, wo ich Gleichaltrige treffen kann und gute Perspektiven habe. Beim ersten Wanderungsmotiv, also beim Arbeitsmarkt, werden die Jugendlichen auch durch ihre Eltern bestärkt, die in den 90er Jahren selbst die Erfahrung gemacht haben, wie schwer es ist, hier auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.

Die Demografie ist aber nur ein Indikator für das Fachkräftepotential. Ein weiterer ist der Bestand an freien Arbeitsplätzen. Dort führt die Bundesagentur für Arbeit jährlich eine Engpassanalyse durch, wo es darum geht, wie lange es dauert, eine freie Arbeitsstelle zu besetzen. Diese sogenannte Vakanzzeit ist volkswirtschaftlich wichtig, weil sie abbildet, dass eine Beschäftigungsmöglichkeit nicht genutzt wird und damit Wertschöpfung, Einkommen und staatliche Einnahmen verloren gehen. Vakanzzeiten laufen prozyklisch zur Konjunktur. Klar: wenn viele Menschen arbeitslos und wenige Stellen frei sind, werden offene Stellen schneller besetzt, als wenn es wenige Arbeitslose und viele freie Stellen gibt.

Die Analyse für 2017 hat ergeben, dass es keinen flächendeckenden Fachkräftemangel in Deutschland gibt. Allerdings gibt es Engpässe in einzelnen technischen Berufsfeldern, in Bauberufen und in einigen Gesundheits- und Pflegeberufen.

Nimmt man beides, die demografische Entwicklung und die Vakanzzeit zusammen, ist klar, dass wir den Fachkräftemangel in einigen Branchen bereits schon haben und in Zukunft weitere Branchen betroffen sein werden.

Durch die Konjunktur und hauptsächlich durch die demografische Entwicklung sind die Chancen auf dem Arbeitsmarkt so gut wie noch nie seit der Wende.

Zurzeit profitieren schon die Berufswähler von den guten Perspektiven beim Einstieg in den Arbeitsmarkt,             einzelne Jobwechsler mit mindestens Facharbeiterabschluss, die aus Unzufriedenheit mit ihren Arbeitsbedingungen sich etwas Besseres suchen und Rentner, die sich beschäftigen wollen – nicht die, die wegen Altersarmut müssen.

Auf Geflüchtete und langzeitarbeitslose Menschen wirkt sich die gute Arbeitsmarktlage noch nicht aus, vor allem weil Bund, Land und Jobcenter zu wenig in Qualifizierung investieren.

Hier müssen wir darauf achten, dass es nicht dazu kommt, diese Personengruppen in bestimmte Branchen wie z.B. die Pflege zu zwingen. Möglichkeiten, Druck auszuüben haben die Jobcenter genug. Die Freiheit der Berufswahl muss für alle gelten.

Eine weitere Schwierigkeit sehe ich in der Leistungsfähigkeit der verschiedenen Branchen: ein Großkonzern wie VW könnte es sich locker leisten, bessere Arbeitszeitmodelle und höhere Bezahlung anzubieten, wenn ihnen Fachkräfte fehlen. Mittelständische Unternehmen werden vor der Frage stehen, es sich leisten zu müssen oder perspektivisch den Betrieb zu schließen. Aber die öffentliche Daseinsvorsorge, wie z. B. die Pflege und die Kinderbetreuung, wird größtenteils aus Beiträgen der Kranken– und Pflegekassen oder aus Steuern finanziert. Das heißt, bis dort eine Reaktion auf den Fachkräftemangel zu erwarten ist, werden wir mit qualitativen und quantitativen Mängeln leben müssen.

Es haben die Wenigsten schon begriffen, wohin diese Arbeitsmarktlage führt:

Arbeitgeber reiben sich immer noch verwundert die Äuglein, weil sich niemand mehr auf ihre freien Stellen bewirbt. Dass sie in der Pflicht sind, Arbeitsplätze attraktiver zu machen und vor allem besser zu bezahlen, haben Viele noch nicht kapiert.

Andererseits besteht ein Großteil der Arbeitnehmerschaft aus den Generationen, die nach der Wende häufig deutliche Brüche in ihren Lebensläufen hinnehmen mussten und deren Identität sich über die Frage „hast Du Arbeit“ definiert. Der Nachwendegeneration, die ja auch schon auf dem Arbeitsmarkt vertreten ist, wurde durch Eltern und Großeltern und auch der Gesellschaft geradezu eingetrichtert, dass man sich, um seinen Arbeitsplatz zu behalten, angepasst verhalten muss, nicht zucken darf und froh sein muss, in einem Beschäftigungsverhältnis zu stehen, egal wie mies, geringfügig, befristet oder schlecht bezahlt es ist.

Nur langsam bemerken die Geknechteten, dass jetzt die Zeit kommt, wo Forderungen nach guter Arbeit erstritten werden können. Nach meinem Empfinden verharren auch die Gewerkschaften noch in einer Schockstarre. Aber in Zeiten der Individualisierung, der Ellenbogen, wo jeder für sich allein kämpft, kommen die Gewerkschaften auch schwer zu den Einzelnen durch.

Ich hielt diesen Vortrag nicht nur, damit wir am Stammtisch ein nettes Diskussionsthema haben. Ich wünsche mir vielmehr, dass immer mehr Menschen aufstehen und sich ihre miesen Arbeitsbedingungen nicht mehr bieten lassen. Wir brauchen jetzt eine Bewegung, die sich gemeinsam gute Arbeit erstreitet. Wir brauchen eine starke Arbeiterbewegung.

MdL Doreen Hildebrandt, Arbeitsmarktpolitische Sprecherin